Es ist der 18. Juni 2009. Die Stadt Maubeuge in Nordfrankreich bereitet sich auf ein Fest vor. Musik liegt in der Luft, die Straßen füllen sich, eine Stimmung der Vorfreude herrscht. Doch inmitten dieser festlichen Betriebsamkeit betritt eine junge Frau das örtliche Kommissariat. Ihr Name ist Anne-Sophie. Sie ist 23 Jahre alt, ihr Gesicht ist von Panik gezeichnet. Um 16:30 Uhr meldet sie, dass ihre 5-jährige Tochter Typhaine verschwunden ist.
Sie erzählt den Beamten eine plausible Geschichte: Sie sei mit Typhaine und ihrer jüngsten Tochter, einem Baby, in der Stadt unterwegs gewesen, um Besorgungen zu machen. Nahe dem Festgelände, in der Avenue de France, sei Typhaine, gekleidet in ein rosa T-Shirt mit dem Motiv ihrer Heldin Dora, der Entdeckerin, einen Moment vor ihr gelaufen, um eine Ecke gebogen und – wie vom Erdboden verschluckt.

Sofort wird ein Großeinsatz ausgelöst. Die Nachricht von dem verschwundenen Mädchen verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Niemand kann ahnen, dass dies der Beginn einer sechsmonatigen Charade ist, einer makabren Inszenierung, die ganz Frankreich erschüttern wird. Denn Typhaine wurde nicht entführt. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits seit acht Tagen tot.
Die Ermittlungen laufen in alle Richtungen. Hunderte von Polizisten, Feuerwehrleuten und Freiwilligen durchkämmen die Stadt. Suchhunde werden eingesetzt, der nahegelegene Fluss Sambre wird von Tauchern abgesucht. Die erste Theorie: ein tragischer Unfall. Ist das kleine Mädchen ins Wasser gefallen? Tage vergehen, aber keine Leiche wird gefunden.
Die zweite Theorie gewinnt an Boden: eine Entführung. Die Nähe zu Belgien, dem Schauplatz der abscheulichen Verbrechen von Marc Dutroux, lässt die schlimmsten Befürchtungen aufkommen. Ein Pädophiler, ein Jäger, der die festliche Verwirrung ausgenutzt hat? Die Polizei überprüft jeden bekannten Sexualstraftäter in der Region. Vierzig Verdächtige werden festgenommen, verhört und wieder freigelassen. Keine Spur.

Die dritte Spur führt ins familiäre Umfeld. Die Ermittler erfahren, dass die Beziehung zwischen Anne-Sophie und Typhaines biologischem Vater, François Taton, zerrüttet ist. Es ist ein erbitterter Streit um das Sorgerecht. François und seine Mutter werden zu Hauptverdächtigen im Szenario einer Entführung durch die Familie. Die Polizei durchsucht das Haus der Großmutter. Sie finden nichts als ein liebevolles Zuhause, aber der Verdacht bleibt.
Während die nationale Suche im Gange ist, spielt sich hinter den Kulissen ein anderes Drama ab. François Taton, der verzweifelte Vater, ist Tag und Nacht auf den Beinen. Er und seine Familie verteilen Tausende von Flugblättern mit Typhaines Foto. Er kann nicht glauben, dass sie einfach so verschwunden ist. Er kennt seine Tochter.
Was die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: François ist derjenige, der Typhaine fast ihr ganzes Leben lang großgezogen hat. In Interviews, die später geführt werden, zeichnet er ein herzzerreißendes Bild. Anne-Sophie, so François, habe Typhaine kurz nach der Geburt im Krankenhaus zurückgelassen. Er und seine Mutter nahmen das Kind auf. “Sie war ein fröhliches kleines Mädchen”, erinnert sich François. “Immer am Lächeln, immer am Singen.” Sie war das Zentrum seines Lebens. Zu ihrer leiblichen Mutter Anne-Sophie, die sie nur zwei- oder dreimal in fünf Jahren gesehen hatte, sagte sie “Madame”.
Sechs Monate vor dem gemeldeten Verschwinden, im Januar 2009, geschah die eigentliche Entführung, weit weg von den Augen der Öffentlichkeit. Anne-Sophie tauchte an Typhaines Schule auf. Sie erzählte der Schulleitung eine grausame Lüge: François habe einen schweren Unfall gehabt und liege im Krankenhaus. Sie gab eine Telefonnummer an. Am anderen Ende der Leitung war ihr neuer Partner, Nicolas, der sich als François ausgab und bestätigte, dass Anne-Sophie das Kind abholen dürfe. Da Anne-Sophie rechtlich noch immer die Mutter war, ließ die Schule Typhaine mit ihr gehen.

Für François begann ein Albtraum. Er versuchte verzweifelt, seine Tochter zu sehen, zu wissen, wie es ihr geht. Doch Anne-Sophie und Nicolas verweigerten jeden Kontakt. Er fühlte die Gefahr, er ahnte, dass etwas furchtbar falsch lief, aber die Mühlen der Justiz mahlten langsam.
In der Zwischenzeit begannen die Ermittler, die die “vermisste” Typhaine suchten, an der Geschichte der Mutter zu zweifeln. Es waren die Details, die nicht stimmten. Bei den Befragungen in der Nachbarschaft von Anne-Sophie und Nicolas machte die Polizei eine seltsame Entdeckung: Niemand kannte Typhaine. Die Nachbarn sahen regelmäßig die ältere Schwester Caroline und das Baby Apolline, aber Typhaine war ein “Geisterkind”.
Dann kam die Sache mit der Taufe. Wenige Tage vor dem angeblichen Verschwinden feierten Anne-Sophie und Nicolas die Taufe ihres gemeinsamen Babys Apolline. Es war eine große Feier mit vielen Gästen. Typhaine war nicht da. Auf Nachfrage erklärten die Eltern, sie sei bei ihrem Vater. Den Ermittlern erzählten sie später eine andere Version: Typhaine sei zur Strafe allein zu Hause eingesperrt gewesen. Ein 5-jähriges Kind, allein zu Haus. Die Widersprüche häuften sich.
Sechs Tage nach der Vermisstenmeldung, am 24. Juni, geben Anne-Sophie und Nicolas eine Pressekonferenz. Es ist ein bizarrer Auftritt. Anne-Sophie wirkt kühl, fast mechanisch, während sie ihren Appell abliest. Neben ihr sitzt Nicolas, der freiwillige Feuerwehrmann, und bricht in hemmungslose Tränen aus. “Wir lieben sie so sehr”, schluchzt er. “Bitte helfen Sie uns.” Viele sind gerührt von der Trauer des Stiefvaters. Andere, wie Typhaines Vater François, sehen die Aufzeichnung und spüren, dass etwas nicht stimmt. “Sie spielen eine Komödie”, sagt er. Einer Journalistin fällt ein kleines, aber makabres Detail auf: Anne-Sophie trägt eine kleine schwarze Schleife an ihrem blauen T-Shirt. Als wäre sie bereits in Trauer.
Die Ermittler sind nun überzeugt, dass das Paar lügt. Sie überwachen ihre Telefone, ihr Internetverhalten. Was sie entdecken, ist nicht das Verhalten trauernder Eltern. Sie besuchen pornografische Websites, nur wenige Tage nach dem Verschwinden. Sie planen ihren nächsten Sommerurlaub. In einem abgehörten Gespräch spricht Anne-Sophie über die Ferienpläne für Caroline und Apolline. Typhaine wird mit keinem Wort erwähnt. Es ist, als hätte sie nie existiert.
Am 30. November 2009, nach fast sechs Monaten zermürbender Ermittlungen, holt die Polizei das Paar ein zweites Mal zur Vernehmung ab. Es ist ein psychologisches Duell. Die Ermittler legen ihre Karten auf den Tisch: die Lügen, die Widersprüche, die Zeugenaussagen. Nach 12 Stunden Verhör bricht Anne-Sophie zusammen.
Sie gesteht. Aber sie tischt eine letzte Lüge auf: Es sei ein Unfall gewesen. Am Abend des 10. Juni habe Typhaine sich im Bett eingenässt. Sie habe sie in die Dusche gestellt, um sie zu reinigen. Als sie zurückkam, um saubere Kleidung zu holen, habe Typhaine leblos im Duschbecken gelegen. Sie und Nicolas seien in Panik geraten, aus Angst, man würde ihnen die anderen Kinder wegnehmen. Also habe Nicolas die Leiche weggebracht.
Es ist eine plausible Geschichte, aber es ist nicht die Wahrheit. Die volle, unvorstellbar grausame Wahrheit kommt von Nicolas. Konfrontiert mit Anne-Sophies Geständnis, bricht auch er. Aber seine Version ist anders.
Es war kein Unfall. Es war Mord.
Am Abend des 10. Juni 2009 sahen Anne-Sophie und Nicolas fern. Im Fernsehen lief der Film “Rasta Rocket”. Typhaine, in ihrem Zimmer, war offenbar zu laut. Das Geräusch störte die Idylle der beiden. Sie holten das Kind. Was dann geschah, ist kaum in Worte zu fassen. Während Nicolas das 5-jährige Mädchen auf dem Boden festhielt, zog Anne-Sophie ihre Turnschuhe an und trat auf sie ein. Ins Gesicht, in den Bauch. Immer wieder.
Nicolas beschrieb es später so: Typhaine war ihr “Boxsack”.
Nach der Prügelorgie zerrten sie das Kind ins Bad und stellten es unter eine eiskalte Dusche – eine übliche Bestrafung, wie sich herausstellte. Dann ließen sie sie allein und gingen zurück, um ihren Film zu Ende zu sehen. Sie hörten ein Röcheln. Als sie nachsahen, lag Typhaine im Sterben. Sie starb dort, allein, im Duschbecken.
Die Autopsie, die nach dem Fund der Leiche durchgeführt wurde, bestätigte die Brutalität. Die kleine Leiche wies Dutzende von Verletzungen auf: gebrochene Rippen, ein gebrochenes Becken, ein gebrochener Ellenbogen. Verletzungen, die die Geschichte des “Unfalls” pulverisierten.
Nicolas gestand auch, dass dies nur der Höhepunkt von sechs Monaten ununterbrochener Folter war, die begannen, als Anne-Sophie Typhaine aus der Schule entführte. Das Kind wurde systematisch misshandelt. Sie wurde geschlagen, mit Gürteln gepeitscht, sie musste hungern, wurde stundenlang im dunklen Keller eingesperrt. Sie durfte das Haus kaum verlassen, damit niemand die Spuren der Gewalt sah.
Nicolas führte die Polizei zu dem Ort, an dem er das kleine Bündel Mensch, das einmal Typhaine war, vergraben hatte: ein Wald in Marcinelle, Belgien. Ein Ort, der durch die Verbrechen von Dutroux bereits traurige Berühmtheit erlangt hatte.
Im Januar 2013 fand der Prozess statt. Die Psychiater, die Anne-Sophie begutachteten, beschrieben sie als “sadistisch, kalt, pervers” und “extrem machiavellistisch”. Sie sprachen von einem möglichen “Medea-Komplex” – dem Wunsch, den Ex-Partner, François, zu bestrafen, indem sie das zerstört, was er am meisten liebte: seine Tochter. François selbst trat in den Zeugenstand. Er sah Anne-Sophie und Nicolas an und stellte die eine Frage, die ihm auf der Seele brannte: “Warum?” Er bekam keine Antwort.
Beide, Anne-Sophie und Nicolas, wurden zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Fall Typhaine Taton hat Frankreich traumatisiert. Er hat die Fassade einer perfekten Familie zerstört und den Abgrund gezeigt, der sich dahinter auftun kann. Für François Taton, den Vater, gibt es keine Gerechtigkeit, die ihm seine Tochter zurückbringen kann. “Egal wie viele Jahre sie bekommen”, sagte er, “es wird Typhaine niemals zurückbringen.” Was bleibt, ist die Erinnerung an ein kleines, fröhliches Mädchen, das es liebte zu singen, und das von den Menschen ermordet wurde, die sie hätten beschützen müssen.